Über die Energie hinaus denken

Zertifizierungssysteme für ökologische Gebäude positionieren sich als führend bei der Lösung von Problemen die mit Mensch und Umwelt im Bauwesen zusammenhängen. So haben wir im letzten Jahrzehnt vermehrt den Begriff "gesunde Gebäude" wahrgenommen. Das Aufkommen dieses Begriffs ist auf viele Faktoren zurück zu führen, vor allem aber das Resultat neuer Forschungsergebnisse über die positiven wie negativen Auswirkungen der Qualität des Innenraumklimas (z. B. Luftqualität, Beleuchtung, Akustik, thermischer Komfort) und deren Auswirkung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen, aber auch die Arbeitsleistung sowie die allgemeine Arbeitsproduktivität. All diese Faktoren haben eine neue Generation von Gebäudezertifizierungssystemen hervorgebracht, die sich auf die Erfahrung der Bewohnerinnen und Bewohner konzentrieren.

Doch trotz der wachsenden Aufmerksamkeit für «gesunde Gebäude» liefert die wissenschaftliche Literatur noch keine konsistenten Beweise dafür, dass Zertifizierungssysteme die gewünschten Ergebnisse erzielen können.

So haben Umfragen in Hunderten von zertifizierten Gebäuden ergeben, dass ein hoher Prozentsatz der Bewohnerinnen und Bewohner (bis zu 40-50%) häufig mit der Qualität der Innenräume unzufrieden ist. Die Frage die sich also stellt: Warum verbrauchen wir so viel Energie um unsere Gebäude zu betreiben, bieten aber gleichzeitig eine relativ schlechte Leistung in Bezug auf das Raumklima, den Komfort und das Wohlbefinden der Menschen?

"Umfragen haben in Hunderten von zertifizierten Gebäuden ergeben, dass ein hoher Prozentsatz der Bewohnerinnen und Bewohner häufig mit der Qualität der Innenräume unzufrieden ist"

Der Ursprung des Problems

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns die aktuellen Praktiken und Herausforderungen von Zertifizierungssystemen genauer anschauen. Die wichtigsten Zertifizierungssysteme für ökologische Gebäude weisen nur etwa 10% ihres Bewertungswerts den Qualitätskriterien des Innenraumklimas zu. In der Regel gelten bei Projekten nur die Energieleistung des Gebäudes um entsprechend zertifiziert zu werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass von 100 zertifizierten Gebäuden die meisten Strategien zur Energieeinsparung aufwiesen, während die Qualität des Innenraumklimas nur bei einigen wenigen Gebäuden beobachtet wurde. Zudem stützt sich die Mehrheit der Zertifizierungssysteme, um die Qualität des Innenraumklimas zu gewährleisten, auf konventionelle Baustandards. Diese Standards haben in der Regel niedrige Ziele und konzentrieren sich auf die Minimierung gesundheitsschädlicher Auswirkungen, anstatt die Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen zu fördern. Ein Problem der bestehenden Programme für umweltfreundliches Bauen ist zudem, dass es keine etablierten Protokolle für die Leistungsprüfung von Gebäuden gibt, insbesondere was die Bewertung des Innenraumklimas betrifft.

Wirtschaftlicher Nutzen

Weltweit erkennen immer mehr Akteure der Baubranche die wirtschaftlichen Vorteile einer gesünderen, glücklicheren und produktiveren Bevölkerung, die sich grösstenteils aus der Bereitstellung optimaler Innenräume ergeben. Personenbezogene Kosten eines schlechten Innenraumklimas können somit als direkte medizinische Kosten betrachtet werden, welche durch das Gebäude verursacht werden oder als indirekte Kosten, welche sich durch eine reduzierte Arbeitsleistung ergeben. Verschiedene Quellen schätzen, dass 80-90% der Kosten eines Gebäudes mit den Salären der Arbeitnehmenden einhergeht, während nur 3% mit der Instandhaltung der Immobilie (einschließlich Energierechnungen) verbunden sind. Mit anderen Worten: Gesunde Gebäude sind nicht teuer, jedoch sind es solche, die dem Raumklima und dem menschlichen Komfort nicht genügend Aufmerksamkeit schenken.

"Weltweit erkennen immer mehr Akteure der Baubranche die wirtschaftlichen Vorteile einer gesünderen, glücklicheren und produktiveren Bevölkerung, die sich grösstenteils aus der Bereitstellung optimaler Innenräume ergeben"

Änderung der Denk- und Herangehensweise

Um die ehrgeizigen Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen, sollten wir in der Schweiz aggressivere Massnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz von Gebäuden ergreifen. Dabei sollte der Fokus vermehrt auf der Qualität des Innenraumklimas liegen, da Umweltziele (Kreislaufwirtschaft, Ressourcen- und Energienutzung) und menschliche Ziele (Gesundheit und Komfort) miteinander verflochten sind und auch in Zukunft sein werden. Hierfür müssen ausgewogenere Ziele für die Energieeffizienz und die Qualität des Innenraumklimas festgelegt werden und die Herangehensweise geändert werden. Nur so kann können schlechte Leistungen vermieden und in die Förderung neuer Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung der Menschen in Gebäuden umgewandelt werden. Diese Art des Denkens und Handelns sollte zum Kern der Strategien für die ökologische Renovierung und Zertifizierung von Gebäuden in der Schweiz werden.

Kolumne veröffentlicht in Le Nouvelliste im Dezember 2021, verfasst von Dusan Licina, Assistenzprofessor mit Tenure Track an der EPFL am Human Oriented Built Environment Laboratory (HOBEL) im Smart Living Lab, Fribourg

Kontakt

Dusan Licina

Head of Human-Oriented Built Environment Lab (HOBEL)
Tenure Track Assistant Professor- EPFL
-human-building interaction
-heating, ventilation and air-conditioning HVAC
-health and comfort in buildings

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Human Oriented Built Environment Laboratory (HOBEL)

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